Forschungsstand



Die bisherige mediävistische Forschung hat gezeigt, dass die Pilgerfahrt als eine der bedeutensten religiösen und sozialen Erscheinungen des Mittelalters zu bewerten ist. Dieses ´fromme Unterwegssein´ zu einem Ort besonderer Heilsvermittlung war ein Grundmuster der menschlichen Existenz in Bezug auf die mittelalterliche Frömmigkeit und die Mentalität der Christen. Neben den allgemeinen Betrachtungen zum Thema Pilger und Pilgerwesen der älteren und jüngeren Forschung finden sich zahlreiche Veröffentlichungen jüngeren Datums zu den einzelnen Aspekten der Pilgerfahrt und speziell zur Romwallfahrt Diese neueren Erkenntnisse liefern wertvolle Einblicke in das Alltagsleben sowie in das soziale Gefüge, innerhalb dessen sich die Pilger bewegten.

Anhand der dokumentierten Gegenstände in den Pilgerführern selbst und im Anschluss an deren Formen lässt sich die Raumwahrnehmung und -erfassung in verschiedene Leitfragen gliedern.

Was nahmen die Pilger in Rom wahr? Hierüber geben die seit dem frühen Mittelalter überlieferten Pilgerführer klare Auskünfte. Genannt seinen der Codex Einsidlensis, die Notitia Ecclesiarum Urbis Romae, das De Locis Sanctis, die Mirabilia Romae und die Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae. Daneben existiert eine reiche Sekundärliteratur zur Bau- und Topographiegeschichte Roms. In der Forschung nicht ausführlich betrachtet und stets kontrovers diskutiert wird die Frage nach dem ´Wie´, d.h. die komplexe Thematik der Wahrnehmung von Gegenständen und die Orientierung im städtischen Raum. Die moderne Vorstellung vom städtischen Raum beruht auf dem Konzept der abbildenden Kartographie. Der allgemeine Gebrauch von Karten zur Orientierung im Raum gilt als normiertes gesellschaftliches Phänomen. Wendet man diese Vorstellung auf das Frühmittelalter am Beispiel der Stadt Rom an, so muss der Frage der Existenz zeitgenössischer Karten nachgegangen werden. Der aktuelle wissenschaftliche Diskurs wird derzeit von zwei Positionen bestimmt. Zum einen wird der Standpunkt vertreten, dass in karolingischer Zeit Stadtpläne von Rom den schriftlichen Beschreibungen beigefügt waren, jedoch durch die Jahrhunderte verlorengingen. Als Unterstützung für jene Theorie kann die rekonstruierte Karte auf Grundlage des Codex Einsidlensis von Hülsen (Hülsen, Christian, La pianta di Roma dell´Anonimo Einsidlense, Dissertazioni della Pontificia Accademia Romana di Archeologia Serie II, Tomo IX, 109, Seite 379-424.) und Lanciani (Lanciani, Rudolfo, L´itinerario di Einsiedeln e l´ordine di Benedetto Canonico, Monumenti antichi I, Roma 1891, Seite 437-552.) angeführt werden. Diese und auch die weitere These, dass Bild und Text stets zusammen eine Einheit bilden, wie von von den Brincken (von den Brincken, Anna-Dorothee, Descriptio Terrarum - Zur Repräsentation von bewohntem Raum im späteren Mittelalter, in: Raumerfassung und Raumbewusstsein im späteren Mittelalter (12.-15.Jahrhundert), Protokoll Nr.347 über die Arbeitstagung auf der Insel Reichenau, Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Konstanz 1995, Seite 2-4.) vertreten, beruhen auf der Annahme, dass das räumlich-perspektivische Vorstellungsvermögen existierte und angewandt wurde.

Gegner dieser Position führen das Ermangeln einer an Quellen nachweisbaren Tradition einer Stadtkarte Roms für den Zeitraum zwischen den Gotenkriegen über Karl den Großen bis ins 12. Jahrhundert an. So kann zwischen der in Fragmenten erhaltenen severischen Forma Urbis aus den Jahren 203 bis 208, einer in Marmortafeln gravierten Darstellung der Stadt Rom und den hochmittelalterlichen Stadtplänen in Codices des 13. und 14. Jahrhunderts keine Quelle dieser Qualität belegt werden. Die Befürworter dieser Theorie der Orientierung im Raum entwerfen daher ein Wahrnehmungskonzept der ´routes´ - Menschen gliedern demzufolge ihre Umgebung durch Wege, beschreiben diese dadurch und entwickeln eine dem entsprechende Vorstellung. Die Wege wiederum werden durch ´landmarks´ gegliedert. Dadurch wurden allgemeingültige Stationen eingerichtet, welche eine Bewertung der Tradierung der Wege in den Führern durch den Pilger selbst ermöglichte. Diese Theorie wurde von Brodersen (Brodersen, Kai, Terra Cognita. Studien zur römischen Raumerfassung, Hildesheim 1995.) bereits für den Zeitraum der römischen Antike dargestellt. Untersuchungen für das Frühmittelalter, welches m.E. eine Entwicklung vom ´routes´-Denken hin zu einer räumlich-perspektivischen Wahrnehmung bildet liegen noch nicht vor.

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